Ewald E. Krainz, Ao. Univ.Prof. i.R. für Gruppendynamik und Organisationsentwicklung
Nachschrift des Referates anlässlich des Eröffnungssymposions am 2.10.2021
Die folgenden Bemerkungen erfolgen vor dem Hintergrund eines sozialwissenschaftlichen Blicks auf die „Morphologie der sozialen Welt“ und ihre Bedeutung für die Entstehung von Konflikten. Konflikte lassen sich wie auf einer Stufenleiter der sozialen Komplexität anordnen, beginnend bei Paarbeziehungen, Familien, Kleingruppen, Teams in Organisationen, Organisationen als Ganze bis zum unstrukturierteren Raum des Gesellschaftlichen. Was die Konfliktlösungen anlangt, ist mit dem Gewaltmonopol des Staates die Chance einer gewissen Befriedung von Konflikten gegeben, in jüngerer Zeit hat sich mit der Entwicklung der Mediation als „alternative dispute resolution“ (alternativ zur Traktierung vor Gericht) ein Verfahren etabliert, das Konfliktlösungen in den Händen der Betroffenen belässt. Im ersten Fall werden Konfliktlösungen angeordnet, im zweiten Fall ausgehandelt. In den strukturierteren „sozialen Formaten“ hat man mittlerweile gute Erfahrungen mit der Anwendung mediativer Verfahren. Konflikte – verstanden als Kollision von Interessen von Konfliktparteien, die in einer Beziehung aneinandergebunden sind – können unter Zuhilfenahme neutraler Dritter, die den Mediationsprozess steuern, bearbeitet werden. Im besten Fall führt dies zu einer friedlichen Lösung, die unter Beteiligung der (ehemaligen) Streitparteien selbst erarbeitet und daher auch besser akzeptiert wird. Hilfreich ist das Einverständnis der Betroffenen, sich auf einen solchen Prozess einzulassen, es gibt aber auch gerichtlich oder sonstwie hierarchisch angeordnete oder angeregte Mediationen.
Schwieriger wird es mit Konfliktsituationen, die auf einer noch höheren sozialen Komplexitätsebene liegen, als Organisationen dies sind. Dann spricht man (etwas unscharf) von „gesellschaftlichen“ Konflikten. Andere für „Gesellschaft“ (und was man damit meint) in Gebrauch befindliche Begriffe, alle sehr erläuterungsbedürftig, sind Kultur, Institution, System, Ideologie, Glauben, Werte, Tradition, historische Vermächtnisse oder Kollektividentität. Um konkrete Konflikte zu beschreiben, sind dies ungeeignete Abstraktionen. Nach bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen, bei denen ethnische Gruppen übereinander hergefallen bzw. ins Feld geführt worden sind, wie dies z.B. beim Zerfall Jugoslawiens geschehen ist, gibt es die Figur einer „coercive mediation“ (coercive = engl. für zwangsweise), das sind unter (im Fall von Jugoslawien internationaler) Aufsicht in Gang gebrachte Verständigungsprozesse, die zwar ihrer Logik nach Mediationen sein können, jedoch vom politischen System (und unterstützt von Militär) getragen werden, dem sich die Streitparteien notgedrungen unterwerfen. Wie man an vergleichbaren Situationen sehen kann, sind die internationalen Aufsichtsorgane häufig jahrelang beschäftigt, wobei das Konfliktpotenzial meist in eine Latenz verschoben wird und in der nächsten Generation von Akteuren wieder auflebt.
Will man Kärnten verstehen, kommt man an der Volksgruppenfrage nicht vorbei. Und um diese richtig zu interpretieren, kann die Nazizeit nicht übergangen werden. Das mag in den letzten Jahren nicht mehr so augenfällig sein, der Konflikt zwischen den Volksgruppen scheint – 100 Jahre nach der Volksabstimmung 1920 – befriedet. Wie kann man überhaupt einen Eindruck von in der Latenz befindlichen „Makrowellen“ gewinnen? Hier kommt jenen Orten und Gelegenheiten ein besonderer Stellenwert zu, die man psychologisch als Bündelung einer kollektiven emotionalen Energie auffassen kann. Das sind natürlich offizielle Denkmäler, aber auch die zu Unrecht vielfach unbeachteten Kirchen und Friedhöfe mit den dort angebrachten Gedenktafeln. Dass sich dort in der Textierung anständige und weniger anständige Formulierungen finden, ist am besten im Rahmen einer bewusster werdenden „Gedenkkultur“ in die Aufmerksamkeit zu nehmen. In den Symbolisierungen ist jedenfalls das historische Gedächtnis aufbewahrt.
Wollte man in solchen Makro-Bedeutungslagen überhaupt etwas mediieren, bräuchte man konkrete Situationen, in denen an einem Konflikt beteiligte Personen in ihren Interessen gegeneinander stehen und es um etwas Konkretes geht. Konkretisierung heißt in diesem Fall hinsichtlich der sozialen Komplexität Verkleinerung. So etwas hat man etwa auf der Ebene von Nachbarschaftskonflikten oder von Gemeinden, in denen Einigungsprozesse hergestellt werden sollen, z.B. im Vorfeld oder Nachgang einer Bürgermeisterwahl. Volksgruppen als Ganze erfüllen diese Bedingung von Konkretheit nicht, sie sind zu groß und in ihren Interessen zu diffus. Man kann mit einer Volksgruppe nicht reden, sie ist in diesem Sinn kein handlungsfähiges Subjekt, weder die Mehrheits- noch die Minderheitsbevölkerung. Sie spricht nicht, es wird für sie gesprochen, und zwar von den legitimierten Repräsentanten. Damit sind wir – was die soziale Komplexität betrifft – auf einer organisatorischen und politischen Ebene, denn auch die Repräsentanten sprechen nicht „mit einer Zunge“, sind fraktionell gespalten und verwenden einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Energie weniger in der Konzentration auf die Sache als vielmehr auf die Verdeutlichung des Unterschieds zu den konkurrierenden Repräsentanten.
Das Agieren von Repräsentanten beinhaltet als Problem die Differenz von direkter und repräsentativer Demokratie. Man kann z.B. als repräsentierte Gruppe mit den eigenen Repräsentanten zufrieden sein oder einen maschinenhaft gewordenen politischen Prozess durch Initiativen der „Zivilgesellschaft“ für ergänzungsbedürftig halten. Damit würde man konflikthafte Themen wieder auf die Ebene der direkt Betroffenen zurückholen. Wie in allen politischen Prozessen kommt der politischen Führungsperson und ihrem Agieren eine entscheidende Bedeutung zu. Es macht einen Unterschied, ob eine Figur wie der ehemalige LH Haider in provozierender Absicht mit den Ortstafeln seine Späßchen treibt, oder ob die Regelung des Zusammenlebens der Volksgruppen seriöser betreut wird.
Eine Form von Makrokonflikten hat damit zu tun, was man mit Nationalismus bezeichnet. Dabei ist ein wichtiger Unterschied festzuhalten. In der Geistesgeschichte gibt es zwei unterschiedliche Formen von Nationalismus. Das eine Paradigma ist das einer Willensnation, wo innerhalb eines definierten Gebiets politische Prozesse unabhängig von der Ethnizität der Bevölkerung das Gemeinwesen ordnen. Das andere Paradigma folgt einem völkischen Verständnis, zur Nation zählen alle einer bestimmten Volksgruppe, unabhängig von aktuellen staatlichen Gebietsgrenzen. Das erste Paradigma geht auf das Staatsverständnis zurück, wie es in Frankreich entwickelt wurde, das andere wurzelt in der deutschen Romantik. Der Begriff Nation ist dabei selbst insofern „verdächtig“, als er auf das lateinische Wort „nasci“ in der Bedeutung „geboren werden“ zurückgeht, also im wörtlichen Sinn das Völkische hervorhebt. Abgesehen von dieser unfreiwilligen Ironie kann man festhalten, dass die sozialen Formen und Vorstellungen von Staatsnation und Volksnation etwas Verschiedenes sind. Der Staat ist eine Organisation von Organisationen, ein Volk dagegen ist ein diffus waberndes Etwas. Daraus geht hervor, dass man die sozialen Figurationen Staat und Volk besser nicht in eins setzt. Denn häufig genug sind Nationsverständnisse, die das tun, „toxisch“. Weltweit gesehen sind mit Ausnahme von ein paar Inseln nationale Grenzen nie identisch mit ethnischen Gebietsgrenzen. Alle haben daher ihre „Volksgruppenfrage“.
Wie kann – ohne toxisch zu werden – mit gegebenen unterschiedlichen Betroffenheitslagen umgegangen werden und in welcher Weise betrifft dies das Verhältnis der deutschsprachigen und slowenischsprachigen Bevölkerung in Kärnten? Die Beantwortung der Frage „Was ist das, die Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe?“ ist nichts, was man ein für alle Mal erledigen könnte, sie ist vielmehr ständige Aufgabe, die sich für jede heranwachsende Generation neu stellt. Es ist immer wieder neu zu bestimmen, welches historische Erbe man antritt, wie sich Recht und Unrecht im Zusammenleben darstellen und wie man sich dazu verhält. Das ist eine Aufgabe für „politische Bildung“, sowohl in der Pädagogik für die Nachwachsenden als auch in der Bewahrung eines „historischen Bewusstseins“ für die Altersstufen, die pädagogischen Beeinflussungen entwachsen sind. Auch in der Außendarstellung kann dies geschehen, in Form von Museen, Ausstellungen, speziell markierten Orten, Gedenktafeln, Publikationen etc. Der Tourismus hat dabei das Potenzial, dem historischen Bewusstsein Geltung zu verschaffen, ohne dass es dabei zwingend zu einem Wiederaufleben alter Konflikte kommt. Mit der verlebendigten Erinnerung in Form von Feiern zu den entsprechenden Jahrestagen muss man dagegen schon wieder vorsichtig sein, weil sie häufig eine Einfallspforte von Irrationalität bilden, je nachdem, wie sie begangen werden und wer sich dabei wie inszeniert.
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